Praxis Logotherapie

 

Jede Nation ist holocaustfähig!
1988 anlässlich des Gedenkjahres zum „Anschluss“ Österreichs an das Nazi-Deutschland, hielt der weltbekannte österr. Begründer der Existenzpsychologie und Logotherapie, Viktor E. Frankl (1905-1997) vor 35.000 Menschen am Rathausplatz in Wien eine viel beachtete Rede

Meine Damen und Herren, ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich Sie bitte, zu dieser Stunde des Gedenkens gemeinsam mit mir zu gedenken:
Meines Vaters- er ist im Lager Theresienstadt zugrunde gegangen; meines Bruders- er ist im Lager Auschwitz umgekommen; meiner Mutter- sie ist in der Gaskammer von Auschwitz ums Leben gekommen; und meiner ersten Frau- sie hat im Lager Bergen-Belsen ihr Leben lassen müssen. Und doch muss ich Sie darum bitten, von mir kein Wort des Hasses zu erwarten.
Wen sollte ich hassen? Ich kenne ja nur die Opfer, aber nicht die Täter, zumindest kenne ich sie nicht persönlich- und ich lehne es ab, jemanden kollektiv schuldig zu sprechen.
Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht, und ich sage das nicht erst heute, sondern ich hab das vom ersten Tag an gesagt, an dem ich aus meinem letzten Konzentrationslager befreit wurde- und zu der Zeit hat man sich wahrlich nicht beliebt gemacht, wenn man es gewagt hat, öffentlich gegen die Kollektivschuld Stellung zu nehmen.

Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein- die Schuld an etwas, das ich selbst getan habe- oder vielleicht zu tun unterlassen habe! Aber ich kann nicht schuld sein an etwas, das andere Leute getan haben, und seien es auch die Eltern oder Großeltern. Und den Österreichern, die heute zwischen 0 und 50 Jahre [anm. von mir: Frankl hielt diese Rede 1988] alt sind, in diesem Sinne eine sozusagen, „rückwirkende Kollektivschuld“ einzureden, halte ich für ein Verbrechen und für Wahnsinn- oder, um es psychisch zu formulieren, es wäre ein Verbrechen, würde es sich nicht um einen Fall von Wahnsinn handeln. Und um einen Rückfall in die so genannte Sippenhaftung der Nazis!

Und ich denke, gerade die Opfer ehemaliger kollektiver Verfolgung sollten die ersten sein, die mir da zustimmen.
Es wäre denn, Sie legen Wert darauf, die jungen Leute den alten Nazis oder den Neonazis in die Arme zu treiben! ….
Ich komme zurück auf meine Befreiung aus dem Konzentrationslager: Ich bin dann mit dem ersten möglichen (wenn auch nur illegalen möglichen) Transport auf einem LKW nach Wien zurückgekehrt. Inzwischen hat man mich 63 Mal nach Amerika geholt; aber jedes Mal bin ich wieder nach Österreich zurückgekommen. Nicht weil die Österreicher mich so geliebt hätten, sondern umgekehrt, weil ich Österreich so geliebt habe, und bekanntlich beruht Liebe nicht immer auf Gegenseitigkeit.
Nun, wann immer ich Amerika bin, fragen mich die Amerikaner: „Warum sind Sie, Herr Frankl, nicht schon vor dem Krieg zu uns gekommen? Sie hätten sich doch viel ersparen können.“ Und ich muß ihnen dann erklären, dass ich jahrelang auf ein Visum warten musste, und wie es dann endlich soweit war, da war es auch schon zu spät, denn ich hab es einfach nicht über mich gebracht, mitten im Krieg meine alten Eltern ihrem Schicksal zu überlassen.

Und dann fragten mich die Amerikaner weiter: „Und warum sind Sie dann nicht wenigstens nach dem Krieg zu uns gekommen? Hatten Ihnen die Wiener zu wenig angetan, Ihnen und den Ihren?“
„Nun“, sag ich den Leuten, „in Wien gab es zum Beispiel eine katholische Baronin, die unter Lebensgefahr eine Kusine von mir als „U-Bot“ versteckt gehalten und ihr so das Leben gerettet hat.
Und dann gab es in Wien einen sozialistischen Rechtsanwalt, der hat mir- ebenfalls sich selbst gefährdend- Lebensmittel zugesteckt, wann immer er nur konnte“.Wissen Sie, wer das war? Der Bruno Pittermann, nachmaliger Vizekanzler von Österreich.

„Nun“, frag ich die Amerikaner weiter, „warum hätte ich in eine solche Stadt, in der es solche Menschen gab, nicht zurückkehren sollen?“
Meine Damen und Herren, ich höre Sie sagen: „Das ist ja alles gut und schön; aber das waren ja die Ausnahmen- Ausnahmen von der Regel, und in der Regel waren die Leute doch Opportunisten- sie hätten Widerstand leisten müssen.“ Meine Damen und Herren, Sie haben recht; aber bedenken Sie, Widerstand setzt doch Heroismus voraus, und Heroismus darf man meiner Ansicht nach nur von einem einzelnen Menschen verlangen, und das ist- man selbst!

Und wer da sagt, man hätte sich lieber einsperren lassen sollen als dass man sich mit den Nazis arrangieret, der dürfe das eigentlich nur dann sagen, wenn er für seine eigene Person unter Beweis gestellt hat, dass er es vorgezogen hatte, sich in Konzentrationslager stecken zu lassen, und siehe da: diejenigen, die in den Konzentrationslagern waren, urteilen im allgemeinen viel milder über die Opportunisten, milder als diejenigen, die sich während dessen im Ausland aufhielten. Ganz zu schweigen von der jungen Generation- wie soll sie sich vorstellen können, wie die Leute gebangt und gezielt haben um ihre Freiheit, ja um ihr Leben und nicht zuletzt um das Schicksal ihrer Familie, für die sie immer die Verantwortung getragen haben.
Nur um so mehr müssen wir diejenigen bewundern, die es gewagt haben, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen- ich gedenke da meines Freundes Hubert Gsur, der wegen Wehrmachtzersetzung zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet wurde.

Der Nationalsozialismus hat den Rassenwahn aufgebracht. In Wirklichkeit gibt es aber nur zwei Menschenrassen, nämlich die „Rasse“ der anständigen Menschen und die „Rasse“ der unanständigen Menschen.
Und die „Rassentrennung“ verläuft quer durch die Nationen und innerhalb jeder einzelnen Nation quer durch alle Parteien.
Sogar in den Konzentrationslagern ist man hie und da auf einen halbwegs anständigen Kerl unter den SS- Männern gestoßen- genauso wie auf den einen oder anderen Falotten und Halunken unter den Häftlingen. Ganz zu schweigen von den Capos.

Dass die anständigen Menschen in der Minorität gewesen sind und voraussichtlich auch bleiben werden- damit müssen wir uns abfinden.
Gefahr droht erst dann, wenn ein politisches System die Unanständigen, also die negative Auslese einer Nation, an die Oberfläche schwemmt. Dagegen ist aber keine Nation gefeilt, und in diesem Sinne ist auch jede Nation grundsätzlich holocaustfähig!

Dafür sprechen nicht zuletzt die aufsehnerregenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen auf dem Gebiet der Psychologie- Forschung, die wir einem Amerikaner verdanken. Sie sind unter der Bezeichnung „Milgram- Experiment“ in die Geschichte eingegangen.

Wollen wir nur aus alledem die politischen Konsequenzen ziehen, sollten wir davon ausgehen, dass es im Grunde nur zwei Stile von Politik gibt oder vielleicht besser gesagt nur zwei Typen von Politikern:
die einen sind nämlich diejenigen, die da glauben, der Zweck heiligt die Mittel, und zwar jedes Mittel, wenngleich es Mittel gibt, die selbst den heiligsten Zweck zu entweihen vermöchten. Und es ist dieser Typus von Politikern, dem ich zutraue, trotz des Lärms um das Jahr 1988 die Stimme der Vernunft zu hören und die Forderung des Tages, um nicht zu sagen des Jahrestages, darin zu sehen, dass alle, die guten Willens sind, einander die Hände entgegenstrecken, hinweg über alle Gräber und hinweg über alle Gräben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Viktor E. Frankl, Wien 1988